Es gibt keinen Rechtssatz, dass unerlaubtes Entfernen vom Unfallort stets versicherungsrechtlich arglistig ist

LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 08.08.2011 – 8 T 5263/11

1. Einen Rechtssatz des Inhalts, dass ein unerlaubtes Entfernen vom Unfallort stets auch arglistig i.S.d. § 28 Abs. 3 S. 2 VVG erfolgt, gibt es nicht.

2. Jedenfalls wenn Umstände vorgetragen werden, die einen Ausnahmefall fehlender Arglist für möglich erscheinen lassen, darf Prozesskostenhilfe wegen Vorliegens von Arglist nicht abgelehnt werden.

(Leitsätze des Gerichts)

Tenor

I. Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers und Beklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 09.06.2011 aufgehoben.

II. Dem Antragsteller und Beklagten wird für den ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt … bewilligt.

III. Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

IV. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.242,60 € festgesetzt.

Gründe

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A. Die Parteien streiten über einen Regressanspruch im Rahmen eines Kraftfahrzeughaftpflichtversicherungsvertrages der am 26.11.2008 abgeschlossen wurde. Der Beklagte verursachte am 24.07.2009 als Fahrer des bei der Klägerin versicherten Kraftfahrzeugs mit dem amtlichen Kennzeichen N-XX einen Verkehrsunfall bei dem das Fahrzeug der Geschädigten Kerstin Schwarz mit dem amtlichen Kennzeichen N-ZZ beschädigt wurde. Nach diesem Unfall hat der Beklagte unstreitig die Unfallstelle verlassen, ohne die ordnungsgemäße Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und der Art seiner Beteiligung an dem Unfall zu ermöglichen.

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Die Klägerin ist der Auffassung der Beklagte habe durch die Unfallflucht die ihm nach den geltenden Versicherungsbedingungen obliegende Aufklärungspflicht schuldhaft verletzt, mit der Folge dass sie im Innenverhältnis gegenüber dem Beklagten leistungsfrei sei und somit den Beklagten wegen der gegenüber der Geschädigten Schwarz erfolgten Schadensregulierung in Regress nehmen könne. Der Beklagte bestreitet die ihm obliegende Aufklärungspflicht vorsätzlich verletzt zu haben. Zudem behauptet er auch, dass die Obliegenheitsverletzung gegenüber der Klägerin folgenlos geblieben sei, so dass diese sich nach der sog. Relevanzrechtsprechung nicht auf die vereinbarte Leistungsfreiheit berufen könne.

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Das Amtsgericht Nürnberg hat das Prozesskostenhilfegesuch des Beklagten zunächst wegen fehlender Erfolgsaussichten zurückgewiesen, da der Beklagte vorsätzlich die ihm obliegende Aufklärungspflicht verletzt habe und der Hinweis auf die frühere Relevanzrechtsprechung nicht durchgreife. Eine Unfallflucht sei auch bei eindeutiger Haftungslage eine Verletzung der Aufklärungsobliegenheit in der KfZ-Haftpflichtversicherung. Aufgrund einer sofortigen Beschwerde des Antragstellers hiergegen hat das Landgericht Nürnberg-Fürth mit Beschluss vom 13.04.2011 die Entscheidung des Amtsgerichts aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen. Das Amtsgericht hat dem Antragsteller und Beklagten nunmehr Prozesskostenhilfe mit der Begründung versagt, dass dieser beim unerlaubten Verlassen der Unfallstelle arglistig i.S.d. § 28 Abs. 3 S. 2 VVG gehandelt habe. So hätten auch das LG Düsseldorf (20 S 7/10) und das LG Saarbrücken (13 S 75/10) entschieden, dass der Versicherungsnehmer/Versicherte bei einer „Unfallflucht“ stets arglistig handele. Darüber hinaus seien durch das unerlaubte Entfernen des Beklagten „grundsätzlich Feststellungen zugunsten der Haftpflichtversicherung erschwert“ worden.

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B. Die zulässige sofortige Beschwerde hat Erfolg.

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I. Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Sie ist insbesondere statthaft (§§ 127 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1, 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) und auch fristgerecht eingelegt (§§ 569 Abs. 1 Satz 1, 127 Abs. 2 Satz 3 ZPO).

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II. Auch in der Sache hat die sofortige Beschwerde Erfolg. Mit den vom Amtsgericht gegebenen Begründungen lässt sich eine Erfolgsaussicht der Rechtsverteidigung gegen den Ausgleichsanspruch der Klägerin nach § 426 Abs. 2 S. 1 BGB, § 115 VVG wegen Leistungsfreiheit im Innenverhältnis zum Beklagten nach § 28 Abs. 2, 3 VVG nicht verneinen.

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1. Dabei ist vorweg zunächst festzuhalten, dass die Prüfung der Erfolgsaussicht i.S.d. §114 Abs. 1 ZPO nicht dazu dienen soll, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfe-Verfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen (BVerfG NJW 2000, 1936). Entsprechend sieht das Gesetz in § 114 ZPO die Gewährung von Prozesskostenhilfe bereits dann vor, wenn nur hinreichende Erfolgsaussichten für den beabsichtigten Rechtsstreit bestehen, ohne dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss. Dies bedeutet zugleich, dass Prozesskostenhilfe verweigert werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, aber fern liegend ist (BVerfG NJW 2000, 1936). Dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit mit der bemittelten Partei läuft es dabei zuwider, dem Unbemittelten wegen fehlender Erfolgsaussicht seines Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt (BVerfG NJW 2000, 1936; BVerfG NJW 2008, 1060; BVerfG NJW 2010, 1657). Kommt also eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht und es liegen keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Antragstellers ausgehen würde, kann Prozesskostenhilfe nicht versagt werden (BVerfG NJW 2008, 1060).

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2. Gemessen am Vorstehenden kann der Hinweis auf die Entscheidungen der LG Düsseldorf (MDR 2010, 1319; 20 S 7/10) und LG Saarbrücken (NZV 2011, 255; 13 S 75/10) zur Begründung eines arglistigen Verhaltens des Beklagten eine Ablehnung der Prozesskostenhilfe nicht rechtfertigen.

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a) Einen Rechtssatz des Inhalts, dass ein – natürlich vorsätzliches – unerlaubtes Entfernen vom Unfallort stets auch arglistig i.S.d. § 28 Abs. 3 S. 2 VVG erfolgt, gibt es nicht. So lässt auch die Entscheidung des LG Saarbrücken (NZV 2011, 255) die Frage, ob derjenige, der vorsätzlich gegen seine vertragliche Wartepflicht verstößt, in der Regel auch arglistig handelt, ausdrücklich offen. Auch das LG Ellwangen (VersR 2011, 62) schließt in einem ähnlichen Fall nur aufgrund des „Gesamtverhaltens“ des Versicherungsnehmers auf Arglist. Die Existenz eines solchen generalisierenden Rechtssatzes könnte auch nicht anerkannt werden (Felsch in Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG § 28 Rn. 79). Die Frage nach dem Vorliegen von Arglist ist immer von subjektiven Faktoren und damit individuellen Gegebenheiten des Einzelfalls geprägt. Vergleichbar gibt es auch keinen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass eine bewusst unrichtige Beantwortung einer vom Versicherer gestellten Frage in einem Versicherungsantrag immer und nur in der Absicht erfolgt, auf den Willen des Versicherers einzuwirken(BGH VersR 2009, 968). Ebenfalls vergleichbar lehnt die höchstrichterliche Rechtsprechung einen Anscheinsbeweis jedenfalls in der Regel als taugliches Erkenntnismittel ab, soweit es gilt, die auch in subjektiver Hinsicht grobe Fahrlässigkeit von der gewöhnlichen zivilrechtlichen Fahrlässigkeit abzugrenzen (BGH VersR 1970, 568 m.w.N.).

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b) Eine arglistige Täuschung setzt in jedem Einzelfall eine Vorspiegelung falscher oder ein Verschweigen wahrer Tatsachen gegenüber dem Versicherer zum Zwecke der Erregung oder Aufrechterhaltung eines Irrtums voraus. Der Versicherungsnehmer muss vorsätzlich handeln, indem er bewusst und willentlich auf die Entscheidung des Versicherers einwirkt (BGH VersR 2009, 968 m.w.N.; zuletzt auch BGH Urt. v. 22.06.2011 – IV ZR 174/09). Eine Bereicherungsabsicht des Versicherungsnehmers ist nicht erforderlich. Es reicht aus, dass er einen gegen die Interessen des Versicherers gerichteten Zweck verfolgt, etwa indem er Schwierigkeiten bei der Durchsetzung berechtigter Deckungsansprüche ausräumen will und weiß, dass sein Verhalten den Versicherer bei der Schadenregulierung möglicherweise beeinflussen kann (BGH VersR 2009, 968; BGH Urt. v. 22.06.2011 – IV ZR 174/09). Grundsätzlich kann damit auch ein Unterlassen arglistig sein.

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c) Natürlich wird das Erfüllen des Tatbestandes des § 142 StGB (sehr) häufig arglistig im vorstehend bezeichneten Verständnis sein. Hier hat der Beklagte jedoch Umstände vorgetragen, die einen solchen Ausnahmefall in Betracht kommen lassen. So soll der Beklagte versucht haben durch das Anbringen eines Zettels an der Windschutzscheibe des beschädigten Fahrzeugs nach Beendigung seiner Fahrt und anschließendem 30-minütigem Warten seine Beteiligung an dem Parkschaden offenzulegen. Dass dies zur Verneinung einer objektiven Obliegenheitsverletzung nicht ausreicht ist offensichtlich, kann jedoch Einfluss auf die Bewertung als arglistig haben. Gleiches gilt für die Behauptung, dass der Beklagte seinen Chef über den Vorfall informiert haben will, der dann die Klägerin unabhängig von den strafrechtlichen Ermittlungen informiert haben soll.

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Ob das Amtsgericht den entsprechenden Angaben dann letztlich wird Glauben schenken und sich auf deren Basis von einer fehlenden – im Übrigen zur Beweislast der Klägerin stehenden – Arglist wird überzeugen können, ist nicht im summarischen Verfahren der Prozesskostenhilfeprüfung zu entscheiden.

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3. Auch soweit sich das Amtsgericht darauf stützt, dass durch das unerlaubte Entfernen des Beklagten „grundsätzlich Feststellungen zugunsten der Haftpflichtversicherung erschwert“ worden seien, trägt dies eine Ablehnung des Prozesskostenhilfeantrags nicht.

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Das Landgericht hat bereits in seiner vorangegangenen Beschwerdeentscheidung vom 13.04.2011 darauf hingewiesen, dass bei den anzustellenden Erwägungen zum Kausalitätsgegenbeweis es nicht um ein „grundsätzlich“ gehen kann. Diese ersichtlich noch der Relevanzrechtsprechung des BGH verhaftete Formulierung kann in diesem Zusammenhang nicht mehr herangezogen werden. Mit § 28 hat der Gesetzgeber in Kenntnis der früheren Relevanzrechtsprechung ein neues Bewertungssystem für Obliegenheitsverletzungen errichtet, in das Elemente der Relevanzrechtsprechung eingeflossen sind. Die frühere Relevanzrechtsprechung muss deshalb nicht mehr bemüht werden (so ausdrücklich RiBGH Felsch in Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG § 28 Rn. 59). Besteht die Obliegenheitsverletzung wie hier in einem Unterlassen, muss danach gefragt werden, ob der missbilligte Erfolg entfiele, wenn man sich das von der Obliegenheit gebotene Verhalten des Versicherungsnehmers hinzudenkt (Felsch in Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG § 28 Rn. 49). Es geht hier also um eine konkrete Betrachtungsweise. Damit stünde dem Versicherungsnehmer etwa sogar der Beweis offen, dass Alkohol nicht im Spiel war (vgl. Schirmer in Marlow/Spuhl, VVG kompakt 4. Aufl. Rn. 783). Freilich reicht eine Mitverursachung aus der Obliegenheitsverletzung für die in Abs. 3 aufgezählten Folgen aus, um die Kausalität zu bejahen (BGH VersR 1969, 247; Marlow in Marlow/Spuhl, VVG kompakt 4. Aufl. Rn. 366). Die Beweislast trifft insoweit den Beklagten (Prölss/Martin/Prölss, VVG 28. Aufl. § 28 Rn. 147, 151; vgl. auch BGH VersR 2001, 756 zum alten Recht).

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Nach alledem rechtfertigt der derzeitige Sachstand und der Prüfungsmaßstab des PKH-Verfahrens nicht die Ablehnung des PKH-Gesuchs des Beklagten. Entsprechend war diesem Gesuch wie tenoriert stattzugeben.

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C. Die deklaratorische Kostenentscheidung folgt aus § 127 Abs. 4 ZPO.

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1. Einen Rechtssatz des Inhalts, dass ein unerlaubtes Entfernen vom Unfallort stets auch arglistig i.S.d. § 28 Abs. 3 S. 2 VVG erfolgt, gibt es nicht.

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2. Jedenfalls wenn Umstände vorgetragen werden, die einen Ausnahmefall fehlender Arglist für möglich erscheinen lassen, darf Prozesskostenhilfe wegen Vorliegens von Arglist nicht abgelehnt werden.

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